Retrospektive – Großonkel Heribert (90) blickt zurück


Kann ene kölsche Jung im Ruhrgebiet glücklich werden? Er kann. Zumindest wenn es ihn nach Bochum verschlägt. Mein Großonkel Heribert, Jahrgang 1929, blickt am Ende seines Lebens zurück – auf den in Köln erlebten zweiten Weltkrieg, die vielen glücklichen Jahrzehnte mit Frau und Kindern in Bochum, seine ehrenamtliche Tätigkeit im Eisenbahnmuseum Bochum-Dahlhausen und im Bochumer Hospiz St. Hildegard. Der nachstehende Text basiert auf Heriberts originalen Aufzeichnungen, die mich sehr berühren, da sie für mich einerseits ein Stück Familiengeschichte beinhalten, andererseits ein kleines zeitgeschichtliches Dokument darstellen. Und dass Heriberts Urgroßnichte, meine Tochter, eine Leidenschaft für die Eisenbahn zu entwickeln scheint, kann doch fast nicht von ungefähr kommen.  

Die Wurzeln
Geboren wurde Heribert am 18. Mai 1929 in Köln. Er war das vierte Kind; zwei sind tot zur Welt gekommen, dann gab es Bruder Günther, 21. Februar 1928. Das Elternhaus war „gut bürgerlich“, wie man damals so sagte. Vater (Jahrgang 1890) Bankprokurist, Deutsche Bank, Mutter (Jahrgang 1898) kam aus gutem Haus und war das, was man eine höhere Tochter nannte. Ihr Vater, Fabrikbesitzer, soll als sechster Bürger der Stadt Köln ein Automobil besessen haben. Die ersten Lebensjahre verbrachte Heribert in Köln, bevor er als junger Mann nach Bochum umsiedelte.

Kriegsjahre
Schulunterricht gab es in Köln bis September 1944. Wegen der großen Zerstörungen und der immer häufigeren Luftangriffe war danach ein Unterricht nicht mehr möglich. Dreimal war Heriberts Familie in Köln ausgebombt, auf gut Deutsch, Hab und Gut waren so gut wie verloren. Das erste Mal: Die Nacht vom 30. zum 31. Mai 1942, dann Sommer 1943 und Oktober 1944. Die Familie bezog danach eine Unterkunft in Bad Godesberg (zu dieser Zeit noch nicht Bonn). Gegen Kriegsende hat Heribert für wenige Wochen Tagebuch geschrieben, nachdem die alliierten Truppen in Bad Godesberg eingezogen waren. Damals war er 15 Jahre alt und blickte auf eine unerfreuliche Jugendzeit: Knapp zu essen, knapp an Kleidung, knapp an Abwechslung, reich an Luftangriffen. Aber, Gott sei Dank, Heribert hat alles gut überstanden, auch ohne psychologische Betreuung (gab´s damals nicht). Da ist im Tagebuch beispielsweise zu lesen:

Montag, 12. März 1945
Deutsche Flieger waren über Godesberg. Die amerikanische Flak schoss aus allen Rohren. Zwei Stunden Anstehen für Brot. Und, was das Schlimmste ist: Immer noch kein Licht.

Mittwoch, 21. März 1945
Letzte Nacht warfen deutsche Flieger Bomben im Marienforst. Das Artilleriefeuer hat nachgelassen. Heute am Tag starker deutscher Beschuss gegen Mittag. Auf der Rheinallee schlug etwa 20 Meter neben mir eine Granate ein.

Mittwoch, 11. April 1945
Riesige Nachschubtransporte laufen durch Godesberg und über die Rheinbrücke. In der letzten Zeit gibt es Kartoffeln und viel Gemüse in Godesberg. Das Hungergespenst ist also vorläufig gebannt.

Donnerstag, 10. Mai 1945
Heute 1. Friedenstag. Seit einigen Tagen fliegen sehr viele Fortress II und Liberator (viermotorige Langstreckenbomber der US-Luftwaffe) im Tiefflug über uns. Wie wir hören, werfen sie wohl über dem Kriegsgefangenlager Kripp (Remagen), wo jetzt 300.000 Mann liegen sollen, Lebensmittel ab.

Freitag, 18. Mai 1945
Erstes Fest in Frieden: Mein Geburtstag. Geschenke: Brieftasche, Papier, Blumen, Stachelbeeren, Buch, Puddingpulver, eine Packung Zigaretten (20 Stück) Lucky Strike.

Abitur
Es war der Jahrhundertsommer 1947, auch Steppensommer genannt – heiß und trocken. Köln lag in Schutt und Asche, Vergnügungen (Kino oder so) gab es so gut wie gar nicht, und zu essen erst recht nicht, man hungerte. Wenig beschädigt und daher geöffnet war das Schwimmbad im Müngersdorfer Stadion, heute RheinEnergie-Stadion. Wie in jedem Jahr, so auch 1947, kam der Herbst und damit der Termin für das Herbstzeugnis. Heribert und seine Mitschwänzer, für die schwimmen attraktiver gewesen war als pauken, erhielten kein Zeugnis, da „die Leistungen aufgrund der vielen Fehltage nicht bewertet werden konnten.“ Die Frage der Mutter nach dem Zeugnis wurde von Heribert ganz im Zeitgeist beantwortet: Aufgrund des Papiermangels hätten nur die Schüler ein Zeugnis erhalten, deren Versetzung zu Ostern gefährdet sei, sozusagen ein Ersatz für den „Blauen Brief“. Doch die Mutter kannte ihr Kind und ihr gesundes Misstrauen ließ sie in die Schule gehen. Danach hatte sie folgende Nachricht für Heribert: „Wenn Du nicht bis zu den Weihnachtsferien im oberen Leistungsdrittel der Klasse zu finden bist, fliegst Du von der Schule.“ Heribert wurde Klassenvierter und durfte bis zum Abitur auf der Penne, so wurde damals die höhere Schule genannt, bleiben. Irgendwann kam dann auch das Abitur mit mündlicher Prüfung. Latein, Englisch, Deutsch; Freitagnachmittags ab 14 Uhr. Latein: Gut gelaufen. Englisch: Gut gelaufen. Schüler Heribert bittet um Unterbrechung (Klopause). Pause genehmigt. Heribert musste nicht und weiß bis heute nicht, warum er um diese Pause gebeten hatte. Himmlische Eingebung? Denn mit dem Deutschlehrer war das in der Vergangenheit nicht immer ganz einfach gewesen. Um 5 Uhr nachmittags kam der Klassenlehrer und fragte, wer denn noch zu prüfen sei. Und Heribert hatte wohl wieder eine Eingebung: „Ich, Herr Studienrat, aber nicht mehr heute. Seit mehr als zwei Stunden warte ich jetzt hier und dieses Warten hat mich doch sehr zermürbt. Ich bitte um Prüfung am nächsten Morgen.“ Es gab aber kein „morgen“, denn die Prüfungen mussten an diesem Tag durchgeführt sein. Nach Rücksprache mit dem Kollegium vermeldete der Herr Studienrat: „Sie können gehen, Sie haben bestanden.“ Zeugnisnote befriedigend. Immerhin.

Der Beruf
Heriberts Vater war in seinem Beruf als Bankprokurist zeitlebens unglücklich. Sein Traumberuf war Lehrer. Sein Vater, also Heriberts Großvater, war ebenfalls Bankkaufmann, Vorstand im Bonner Bankverein. Ihm ist es gelungen, diesen in die Pleite zu führen. Ein „Schicksalsschlag“ für den Vater war, dass Sohn Heribert dann auch noch zur Bank ging. Eigentlich wollte Heribert ja Journalist werden. Die Zeitungen, bei denen er sich bewarb, suchten Wirtschaftsjournalisten. Der Weg war klar: Kaufmännische Lehre, am besten bei einer Bank, dann Journalistenschule, dann Beruf. Er blieb bei der Bank hängen. Bruder Günther wollte, seit Heribert denken kann, Arzt werden. Die vorzeitige Festlegung auf den Beruf war für den Bruder von Vorteil. Die Mutter litt sehr unter Rheuma und brauchte ab und an Hilfe. So lernte Heribert schon frühzeitig, was „Große Wäsche“ bedeutete. Einweichen, Rubbelbrett, Aufhängen – alles bekannte und ausgeübte Tätigkeiten. Günther war natürlich befreit, denn ein Arzt braucht feine Hände, um tasten zu können. Heribert hatte eigentlich auch einen richtigen Traumberuf: Kapitän. 1946 versuchte er, auf der Seefahrtschule Hamburg angenommen zu werden. Die Resonanz war ernüchternd. Die Schule wies darauf hin, dass es wohl in Zukunft (verlorener Weltkrieg) keine deutsche Handelsflotte mehr geben werde; wenn doch, stünden genügend ausgebildete Seeleute zur Verfügung. Also doch Bankkaufmann in dritter Generation.

Anneliese, die zukünftige Ehefrau
Beide, Heribert und Anneliese, bei ihrer ersten Sichtung einander gänzlich unbekannt, arbeiteten in Düsseldorf und beide fuhren morgens mit dem gleichen Zug (D 234 Basel-Dortmund) dorthin. Von den Bahnsteigen in Düsseldorf führen zwei gegenläufige Treppen zur Eingangshalle. Da hat Heribert Anneliese eines Morgens gesehen und: „Das ist sie!“ gedacht. Liebe auf den ersten Blick. Es dauerte einige Zeit, bis es dann auch zu gemeinsamen Rückfahrten kam. Anfangs nur samstags (6-Tage-Woche). Vom Hauptbahnhof in Köln gingen sie gemeinsam bis zur elterlichen Wohnung Annelieses; Heribert nahm dann die Straßenbahn. Nach wenigen Monaten, man war noch per Sie, blieb er auf einem gemeinsamen Heimweg plötzlich stehen und sagte: „Fräulein Fehr, ich werde Sie heiraten.“ Fräulein Fehr blieb ebenfalls stehen und sagte kühl: „Einen Blödmann wie Sie werde ich nie heiraten!“ Die beiden heirateten am 23. April 1957. Den Segen des Schwiegervaters hatte Heribert, denn: Der Mann war ein leidenschaftlicher Skatspieler. An einem Sommersonntagmorgen spielte Heribert mit seinem zukünftigem Schwiegervater und einem Cousin Annelieses in Gürzenich Skat. Und er spielte wohl recht ordentlich, denn Schwiegervater Fehr sagte nach Spielende: „Kaate kann er.“ (Kartenspielen kann er.) Auf gut Deutsch: Er darf meine Tochter heiraten. Und auch Heriberts Mutter ist der jungen Liebe nach ersten Anlaufschwierigkeiten wohlgesonnen. Da hatte Heribert Anneliese an einem Samstag zum Kaffee in die elterliche Wohnung eingeladen. Anneliese klingelt, Heriberts Mutter eilt zur Tür: „Das Eine will ich Ihnen sagen, Fräulein Fehr. Samstags gehören meine Kinder mir. Also wagen Sie es nicht noch einmal … .“ Eine eiserne Regel besagte nämlich, dass von Samstagmittag bis nach dem Mittagessen am Sonntag Anwesenheitspflicht für die Söhne herrschte, die sich daran selbstverständlich hielten. Später haben sich Heriberts Mutter und Anneliese dann sehr gemocht.

Und noch einmal Heriberts Mutter: Heriberts Vater war 49 Jahre bei der Deutschen Bank. Als er deutlich über 65 Jahre alt war, wollte die Bank ihn pensionieren. Und Heriberts Mutter ging zum Filialleiter Köln. „Wenn Sie meinen Mann jetzt in den Ruhestand versetzen, wohl nur um eine Prämie zu sparen, gehe ich zur BILD-Zeitung!“ Heriberts Vater feierte das 50-jährige Firmenjubiläum.

Bochum
Im Winter 1956/57 ging es aus beruflichen Gründen von Köln nach Bochum in die Hugo-Schulz-Straße. 61 qm, schönes großes Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Küche und Bad. In dieser Wohnung gab Anneliese ihren ersten Sektempfang. Das sah so aus: Der Rohbau war fertiggestellt und Anneliese kam zur Besichtigung nach Bochum. In der Wohnung, ohne Fenster und Türen usw., packte sie eine Flasche Sekt und zwei Gläser aus und Anneliese und Heribert stießen auf ihre Zukunft an. Die Frau hatte Stil. Wetter trübe, Schneereste und Matsch auf den Straßen, noch große Kriegsschäden. „Eins musst Du mir versprechen: Vorstandsmitglied bei der Westfalenbank darfst Du nie werden!“ Ist Heribert auch nicht geworden; aber in Bochum haben sich die beiden nachher doch sehr wohlgefühlt.

Und natürlich stand die Familienplanung an. Vier Wochen verheiratet und kein Kind in Sicht – die Gattin vermutete Zeugungsunfähigkeit beim Mann! Doch dann klappte es. Als das erste von vier Kindern am späten Nachmittag des 30. Mai 1958 geboren war, öffnete Heribert das Küchenfenster (Parterrewohnung) und rief auf die Straße hinaus: „Hallo Leute, ihr Arschlöcher, ich habe eine Tochter!“ Es war ein Samstagnachmittag und kein Mensch weit und breit zu sehen. Ursprung dieser Tat: Es war Weihnachten 1957 gewesen und Bruder Günther wollte frühstücken. Es gab kein Brot und er ging auf den Balkon und rief laut und hörbar für alle Nachbarn: „Hallo Leute, es ist Weihnachten und wir haben kein Brot im Haus!“

Nach der Hugo-Schulz-Straße folgten schöne Jahre in der Wiemelhauserstraße. Diesen Umzug musste Heribert allerdings allein stemmen, da Anneliese einen schweren Verkehrsunfall gehabt hatte. Heribert besichtigte den Unfallwagen, erhielt 125 DM Schrottwert und übergab Anneliese im Krankenhaus 62,50 DM: „Das ist Dein Anteil am Auto.“ Operiert wurde Anneliese dann im Bergmannsheil in Bochum (linke Niere entfernt). In den 1970er Jahren zogen Anneliese und Heribert in die Bochumer Arnikastraße, in der sie über 30 Jahre lebten.

Als das Familienleben 1957 in Bochum begann, war die Stadt geprägt von Kohle und Stahl. Aber es gab und gibt viele Grünanlagen und das Schauspielhaus. Damals wie heute ein angesehenes Sprechtheater – Saladin Schmidt, dieser Name sagt wohl alles. Heute ist Bochum eine Universitätsstadt mit einem vielfältigen kulturellen Angebot. In dieser Stadt kann man gut leben. „Bochum, ich komm’ aus dir“ – dieses Lied auf die Stadt von Herbert Grönemeyer ist für ihre Bewohner zur oft gesungenen Hymne geworden. Bei diesen Menschen fühlt sich auch ein Kölner wie zu Hause. Und Anneliese hatte einen besonderen Bezug zur Stadt: „Ich bin froh, meine Kinder in Bochum erziehen zu können, nicht in Köln. Hier weiß ich immer, wo sie sind.“ Heribert war sich da nicht so sicher.

Unterwegs
Nachdem die Kinder groß waren, haben Anneliese und Heribert viel von der Welt gesehen, vergleichsweise wenig von Deutschland. „Das machen wir, wenn wir alt sind.“ Zu spät. Dafür mehrfach Indien, Hawaii, Kalifornien, Kanada, New York und unzählige Male London. Dazu unvergessliche Schiffsreisen ans Nordkap, in die Karibik, nach Mexiko, auf die Bahamas und die Kanaren sowie nach Nordafrika. In Tanger/Marokko Besuch bei einem Teppichhändler. Langwierige Verhandlungen führten dazu, dass Heribert zwar keinen Teppich kaufen wollte, der Händler aber Anneliese. Beim Handeln, wie viele Kamele er denn nun zahlen müsse, wurde Anneliese ernsthaft unruhig und Heribert brach auf ihren dringenden Wunsch hin den Handel ab. Unvergessliche Erlebnisse wurden Anneliese und Heribert auch in Indien beschert. Die beiden hatten Werner Höcker, den Leiter des Studios Bielefeld des WDR, kennengelernt. Dieser hatte sich in Indien engagiert und Gelder gesammelt für den Bau eines Waisenhauses, eines Kindergartens, einer Schule etc. Die gesammelten Gelder wurden in bar nach Indien gebracht, denn das sparte teure Umrechnungskosten der Indischen Nationalbank. Und außerdem kontrollierte Werner Höcker jährlich die korrekte Verwendung der Gelder. Anneliese und Heribert flogen, natürlich auf eigene Kosten, mit und machten anschließend eine Busfahrt durch das südliche Indien. Ankunft im Dorf, in dem das Waisenhaus fertiggestellt wurde. Zur Begrüßung zwei Feuerwerksraketen, kaum zu sehen, aber ein Riesenaufwand für die Bewohner. Und dann kamen die Kinder – und einigen Besuchern die Tränen. Hierzu gehörten Anneliese und Heribert. Die Kinder festlich gekleidet, für jeden Besucher ein Blümchen in der Hand und dunkle, strahlende Augen voller Dankbarkeit. Bei dieser Erinnerung bekommt Heribert noch heute glänzende Augen.

Heribert, der liebe Gott und die Kirche
Er sagt, er wisse Gott, also mehr als nur Glauben. Wie das, wo Heribert doch eigentlich praktisch denkt? Seine Gottesbeweise: Da gibt es die Theorie vom Urknall. Nur bleibt eine Frage offen: Wer oder was knallt, wenn gar nichts da ist? Dann die Zehn Gebote. Eine genialere Gesetzgebung gibt es nicht. Alle Gesetzbücher dieser Welt erläutern nur, was Moses im Dornbusch gesagt worden ist. Und dann, drittens, das „Vater unser“. Gibt es ein umfassenderes Gebet, was in so wenigen Worten Gott preist und ihn um Wesentliches bittet? Na, also! Und die Kirche? Heribert hatte die besten Voraussetzungen, ein treuer Diener der Kirche zu sein: Aufgewachsen im „hillige Kölle“, katholisches Elternhaus, katholische Volksschule, katholisches Gymnasium, was will man mehr? Und warum hat sich das so einschneidend geändert? Mutter war ursprünglich evangelisch, hatte sich aber aus Liebe katholisch taufen lassen. Dem Herrgott hat sie sehr übel genommen, dass er den Verlust von Hab und Gut 1942 geduldet hat; sie ging nicht mehr zur Kirche. Na gut, dann ging sie eben nicht. Dann aber, in der Nachkriegszeit, begannen die katholischen Priester, bis dahin an ihrer Kleidung zu erkennen, diese abzulegen und sich zu kleiden wie alle anderen. Das hat Heribert unangenehm berührt und er versteht bis heute diese Entwicklung nicht. Warum wollten oder wollen sie nicht als Gottesdiener erkannt werden? Heribert hat viele Antworten und er hat auch keine. Dann wurde immer mehr bekannt, dass auch in Köln wohl recht viele Priesterkinder herumlaufen, für die die Kirche Unterhalt zahlt. Zölibat? Eigentlich ziemlich verlogen, diese „Amtskirche“. Der Versuch der Amtskirche modern zu sein, sich irgendwie dem Zeitgeist anzupassen, war der beste Weg, Vorbildfunktion zu verlieren und ist vielleicht auch der Grund des katastrophalen Priestermangels. Der Kontakt mit den Gläubigen geht mehr und mehr verloren – gelernte Priester, keine Seelsorger sind vielerorts tätig. Heribert hat einen anderen Weg gefunden, Christ zu sein, christlich zu handeln (hofft er). Diese Kirche ist zurzeit nicht seine religiöse Heimat.

Wie die Eisenbahn in Heriberts Leben kam
Schon früh entdeckte Heribert seine Liebe zur Eisenbahn. Gewohnt hatte die Familie in Köln mit Blick auf den Güterbahnhof Köln-Gereon und der Anblick des Rheingold-Luxuszugs der Deutschen Reichsbahn in den 1930er Jahren ist Heribert unvergessen. Und dann kam es noch besser: Weihnachten 1938 brachte das Christkind eine elektrische Eisenbahn mit Dampflok. Im Krieg ging dann alles verloren. Aber von seinen 120 DM Prämie zur bestandenen Kaufmannsgehilfenprüfung im Jahr 1953, kaufte sich Heribert im Spielwarengeschäft einen preußischen Personenzug (Märklin). Der Grundstock zum eigenen „Spielzimmer“, dem heimatlichen Eisenbahnkeller mit einer großen Anlage, war gelegt. Die Beschäftigung mit der Modelleisenbahn sollte sich später als ein großer Vorteil erweisen, denn 1991 ging Heribert in den Vorruhestand. Der Grund? Ein tiefes Einverständnis zwischen dem direkten Vorgesetzen und Heribert – Jeder hielt den anderen für ungeeignet. So kam es im Jahr 1991 zur Trennung. Als Anmerkung: Der gleiche Vorgesetzte hatte ein Jahr zuvor Anneliese verkündet: Ihren Mann hat uns der liebe Gott geschickt. Als Heribert Anneliese mitteilte, dass er bald im Ruhestand sein werde, wurde diese erst einmal blass. „Jetzt ist der zu Hause, wandert von Sessel zu Sessel und weiß nicht, was er tun soll!“ Doch, er wusste es. Bereits 1985 hatte Heribert mit dem Gedanken gespielt, im Eisenbahnmuseum in Bochum-Dahlhausen tätig werden zu wollen. Originalton Anneliese damals: „Wenn Du zu denen Rost klopfen gehst, lasse ich mich scheiden.“ Gleiches hatte sie schon einmal gesagt, als Heribert 1969 verkündete, er wollte in die Politik gehen, mit dem Ziel, Bundeskanzler zu werden. Und jetzt wieder Anneliese, im Jahr 1991: „Du wolltest doch im Eisenbahnmuseum etwas tun. Erkundige Dich doch mal bei denen.“ Und so war Heribert dann fast zwölf Jahre als „Ehrenamtlicher“ im Eisenbahnmuseum Bochum-Dahlhausen tätig. Bevorzugt als Museumsführer für Kindergruppen, an der Kasse oder auch im Frühjahr zum Weichenschmieren. Und das zwei- bis dreimal die Woche. Anneliese nannte das Museum hin und wieder auch schon einmal „das Scheißmuseum“, denn Heribert verbrachte viel Zeit in Dahlhausen. Mit Hilfe seiner Tochter übersetzte er den Museumsführer ins Englische, erfand die Kindertage und war auf Kinder- und englischsprachige Führungen spezialisiert. Heribert lernte Waggons zu reinigen (innen und außen), fegte Laub, sammelte Zigarettenkippen ein und und und. Beiträge und Videos, in denen er und die „Rentnerbande“, eine Truppe von vier Herren etwa gleichen Alters, zu sehen ist, gibt es von RTL, WDR und dem Eisenbahnmuseum. Auch ein Eisenbahn-Buch hat Heribert geschrieben.

Heribert und das Hospiz
Nachdem die Rentnerbande im Jahr 2002 vom neu eingesetzten, jungen Museumsleiter als „zu alt“ aufgelöst worden war, ergab sich über Anneliese ein Kontakt zum Bochumer Hospiz St. Hildegard. Heribert ließ nachfragen, ob er eventuell im Hospiz helfen könne. Antwort: Im Hospiz laufen Vorbereitungen, Hinterbliebenen Trauerbegleitung anbieten zu können. Bitte zur Ausbildung anmelden. Das tat Heribert und ist seit Mai 2004 in diesem Bereich engagiert. Nach Annelieses Tod erweiterte er die Tätigkeit auf den Pfortendienst jeden Sonn- und Feiertag. Aktuell macht Heribert, im 91. Lebensjahr befindlich, „nur noch die Pforte“, das heißt Telefonzentrale, Hinterbliebene empfangen, Bestatter einweisen, Anmeldungen entgegennehmen, Erstbesucher führen usw. Hospiz und Heribert sind glücklich.

Im Hospiz beginnt das Alphabet mit einem G wie Gast. Doch wer ist der Gast? Ein Mensch am Ende seines Lebens, der nach menschlichem Ermessen nur noch eine sehr kurze Zeit zu leben hat – wenige Tage, manchmal sind es sogar nur einige Stunden. Religion, Herkunft und Alter spielen keine Rolle. Das Ziel aller Tätigkeiten ist, den Gast im Leben zu begleiten und ihm das Sterben, soweit irgend möglich, zu erleichtern – möglichst angst- und schmerzfrei. Körperpflege und Palliativ-Betreuung sind wichtige Voraussetzungen für das Wohlbefinden des Gastes. Ein Gespräch, Zuhören, Beten, aber auch eine Erfrischung oder der Wunsch, später frühstücken zu dürfen oder gewaschen zu werden – jedes Anliegen wird respektiert und erfüllt, denn die Bedürfnisse und Wünsche des Gastes bestimmen das Geschehen. Die Tagesabläufe sind für die Mitarbeiter somit nur schwer vorhersehbar. Aber mit Geduld und Organisationstalent ist das zu schaffen und mit größter Hochachtung sei festgestellt, dass die Betreuung aller Gäste durch Hospizmitarbeiter, Schwestern, Pfleger oder Ehrenamtliche stets liebevoll und geduldig erfolgt. Gast und Personal wissen: Ein Erfolgserlebnis, wie zum Beispiel „als geheilt entlassen“, gibt es nicht. Lohn ist der Dank der Gäste und der Hinterbliebenen. Heribert ist froh und dankbar, im Hospiz helfen zu dürfen, und, wenn auch nur indirekt, Menschen während ihres allerletzten Lebensabschnitts beistehen zu können.

Noch einmal Anneliese
Anneliese ist am 27. Juli 2011 gestorben. Sie war in jeder Sicht eine wunderbare Frau, ein guter Mensch. Umso mehr vermissen die Kinder ihre Mutter, ich meine Frau. Sehr viel hat sie dazu beigetragen, dass wir eine Familie sind. Gott sei Dank hat sie keinen langen Leidensweg gehen müssen. Aber in der Zeit ihrer schweren Krankheit haben wir erlebt, was Familie bedeutet. Bei ihrem ersten Krankenhausaufenthalt hatte sie vierundzwanzig Stunden Betreuung; und das fünf Wochen lang. Und danach noch einmal kurze Zeit. Ohne dass ich auch nur eine Bitte aussprechen oder etwas organisieren musste – jede Nacht war eines der (berufstätigen) Kinder am Bett der Mutter. Tagsüber war ich da. Die behandelnden Ärzte und das Pflegepersonal haben mehrfach gesagt, dass sie so etwas noch nie erlebt hätten. Ohne diesen Einsatz wäre Anneliese wahrscheinlich schon früher von uns gegangen, meinten die Mediziner. Am 27. Juli 2011 um kurz nach sieben Uhr klingelte das Telefon: „Mama ist gestorben.“ Dass ich in diesem Moment des Abschieds ihre Hand nicht gehalten habe, tut weh.

Schlusswort
Ungeachtet dessen, was noch kommen mag – nach menschlichem Ermessen habe ich nicht mehr sehr viel Zeit auf Erden. Das ist gut und richtig. Ein persönlicher Rückblick auf 90 Lebensjahre? Es war ein gutes Leben. Krieg und Hungersnot liegen weit zurück und wurden mehr als aufgewogen. Die schönste Zeit? Die Jahre mit Anneliese, die ich immer als ein Geschenk Gottes empfunden und was ich auch oft gesagt habe. Bis der Tod euch scheidet ist wahr geworden. Eine weitgehend intakte Familie und eine erstaunlich gute Gesundheit machen mir das Altwerden leicht. Ich danke Gott dem Vater.