Frühkindliche Regulationsstörung: Wenn das Baby durchschreit


Ein Baby wird geboren und plötzlich ist alles anders, als es sich die frischgebackenen Eltern ausmalten. Ihr Kind schreit und schreit und lässt sich durch nichts beruhigen. Angelina und Deniz erzählen von der Geburt ihres ersten Kindes und geben Einblick in das herausfordernde erste Lebensjahr mit ihrer Tochter Lisa, die durch eine frühkindliche Anpassungsstörung bedingt fast durchgehend schrie.

Liebe Angelina, lieber Deniz, Eure erste Zeit als junge Familie verlief ganz anders als erwartet. Als frischgebackene Eltern wurdet Ihr vor unerwartete Herausforderungen gestellt, die Euch einiges abverlangt haben. Wie nahm Eure Geschichte ihren Anfang?

Angelina: Ich war mit Deniz erst wenige Monate zusammen, doch wir verspürten beide einen großen Kinderwunsch. Einige Monate später war es so weit: Ich war schwanger. Deniz und ich waren sehr glücklich, bezogen unsere erste gemeinsame Wohnung. Doch im dritten Schwangerschaftsmonat kam es zu Komplikationen. Ich hatte Blutungen, musste mich schonen. Zum Glück war unser Baby gesund, sodass ich nach einiger Zeit wieder arbeiten ging. Zu Beginn des siebten Schwangerschaftsmonats bekam ich erneut starke Blutungen. Die Untersuchungen im Krankenhaus ergaben, dass ich Vorwehen hatte. Ich wurde stationär aufgenommen und erhielt, um eine Frühgeburt zu verhindern, wehenhemmende Medikamente. Diese verursachten erhebliche Nebenwirkungen. Ich reagierte mit Herzrasen, war nach jeder Bewegung völlig außer Atem. Als ich nach einer Woche entlassen wurde, musste ich mich schonen und frühzeitig in Mutterschutz gehen. Diese Zeit allein zu Hause und ohne wirkliche Beschäftigung war lähmend. Ich wollte so viel vorbereiten und anpacken, war aber zum Nichtstun gezwungen und fühlte mich um die schönen letzten Monate der Schwangerschaft gebracht.

Wie verlief die Geburt Eures Wunschkindes Lisa?

Angelina: Nachdem Lisa erst zu früh auf die Welt gedrängt hatte, ließ sie sich nun Zeit und wurde letztendlich eine Woche nach dem errechneten Termin geboren. Während der Geburt, die sich lang hinzog und trotz starker Wehen nicht richtig in Gang kam, wurden Lisas Herztöne immer schlechter. Parallel litt ich unter akutem Sauerstoffmangel. Unter dieser belastenden Situation kollabierte Deniz, der völlig überfordert war. Schließlich hatte ich Presswehen, doch Lisa steckte im Geburtskanal fest. Nach neun Stunden im Kreißsaal war die Situation vor allem für Lisa so bedrohlich, dass die Entscheidung für einen Notkaiserschnitt gefällt wurde. Ich wurde für die Operation vorbereitet, jetzt musste es schnell gehen. Deniz verbannte ich aus dem OP-Saal, denn ich spürte, dass er der Situation nicht mehr gewachsen war. Auch mir ging es emotional sehr schlecht. Mir kam es vor, als hätte ich die Kontrolle über meinen Körper und mein Kind an der Tür des Kreißsaals abgegeben. Lisa wurde aus dem Geburtskanal zurück in den Bauchraum gedrückt und dann per Kaiserschnitt geholt. Ich sah sie nur kurz, dann wurde Lisa weggebracht. Gott sei Dank war gesundheitlich alles bei ihr in Ordnung.

Konntet Ihr nun durchatmen und die ersten Stunden und Tage als junge Familie genießen?

Angelina: Was wir damals nicht wussten: Der schwierigste Teil stand uns noch bevor, denn jetzt ging es erst richtig los. Lisa trank nicht an der Brust. Ich pumpte die Milch ab, gab ihr das Fläschchen. Das bedeutete natürlich das Aus für das Stillen. Leider gab es weder liebevollen Zuspruch durch die Krankenschwestern, noch eine Stillberatung. Wir waren auf uns allein gestellt. Hinzu kam, dass Lisa permanent weinte. Sie schlief sehr wenig, meist nur eine halbe Stunde am Stück. Kaum war sie wach, schrie sie auch schon los. Für uns war das alles sehr stressig. Während meine Zimmernachbarin selig ihr entspanntes, dauerschlafendes Kind stillte, kam mein Gedankenkarussel in Schwung: Warum klappt das bei uns nicht? Wieso kann ich meinem Kind nicht das geben, was es braucht? Wieso schreit unsere Lisa die ganze Zeit und warum können wir sie nicht beruhigen? Niemand beantwortete uns diese Fragen oder setzte sich etwas intensiver mit unserer Situation auseinander. So hangelten wir uns durch die ersten Tage, immer mit dem Ziel: Bald geht es nach Hause, dann wird alles besser.

Deniz: Die Geburt und die Tage im Krankenhaus waren für uns alle schwer. Ich war durch das Geburtserlebnis regelrecht traumatisiert. Ich konnte das Krankenhaus kaum betreten, ohne Panikattacken zu bekommen. Mir blieb die Luft weg, ich hyperventilierte, meine Gliedmaßen wurden taub. Das waren genau die gleichen Symptome, die ich unter der Geburt erlebt hatte. Und bei jedem Krankenhausbesuch holten sie mich wieder ein.

Nach einer knappen Woche wurdet Ihr aus dem Krankenhaus und in die Ruhe der eigenen vier Wände entlassen. Wie verlief Eure erste Zeit zu Hause?

Angelina: Wir waren glücklich, das Krankenhaus verlassen zu können. Lisa schlief und die Fahrt nach Hause klappte sehr gut. Deniz hatte für unsere Heimkehr alles vorbereitet und geschmückt. Wir waren eine halbe Stunde in den eigenen vier Wänden, dann ging es los. Lisa begann zu schreien und ließ sich durch nichts beruhigen. Gegen Abend waren wir fix und fertig und ziemlich hilflos. Deniz besorgte in der Apotheke andere Schnuller und weitere Kleinigkeiten, um Lisa in irgendeiner Form Linderung zu verschaffen. War sie müde oder hungrig? Hatte sie Bauchschmerzen? Wir konnten es nicht herausfinden.

Die nächsten Tage verliefen denkbar anstrengend. Lisa schlief kaum, weinte beinahe ununterbrochen. Wann immer Deniz das Haus für Besorgungen verließ, hätte ich ihn am liebsten begleitet. Ich war verunsichert, traute mich fast gar nicht, mit Lisa allein zu sein. Das Gefühl, so hilflos zu sein und mich nicht auf meine eigene Intuition verlassen zu können, sprich, intuitiv etwas zu finden, um Lisa zu beruhigen, war schrecklich. Bis auf wenige Ausnahmen schrie unsere Tochter nonstop durch. Und wir Eltern hatten keine Minute Zeit zum Abschalten.

Wir setzten große Hoffnungen auf unsere Hebamme. Leider war diese keine wirkliche Hilfe und ich hatte das Gefühl, für sie eine frischgebackene, verunsicherte Mutter von vielen zu sein. Ihrer Aussage nach würde sich alles mit der Zeit einspielen. Doch das Gegenteil war der Fall: Unsere Situation verbesserte sich in keinster Weise. Immerhin fanden wir nach einigen Tagen heraus, dass sich Lisa beruhigte, wenn wir sie auf einem Gymnastikball schaukelten. Die nächsten Wochen, und das ist kein Scherz, verbrachten wir also abwechselnd fast 24 Stunden auf diesem Gymnastikball. Das war sehr anstrengend, aber immerhin hatten wir eine Möglichkeit entdeckt, Lisa zu beruhigen. Wenn wir nicht auf dem Gymnastikball schaukelten, trug ich Lisa im Tragetuch. Dass ich sie ablegen konnte, war unmöglich bzw. zog sofort Geschrei nach sich. Sehr belastend war auch, dass wir keinen Tag-Nacht-Rhythmus zustande brachten. Lisa schlief nie lang am Stück, war ständig wach und unruhig. Ich war fix und fertig, habe mich als Mutter und unsere Entscheidung, ein Kind zu bekommen, infrage gestellt. In dieser Zeit habe ich so viel geweint, wie wohl nie zuvor in meinem Leben.

Wo habt Ihr im ersten Schritt Hilfe gefunden, nachdem Ihr so an Eure Grenzen gestoßen seid?

Deniz: Unser Kinderarzt half uns sehr. Er nahm sich viel Zeit, um sich unsere Geschichte anzuhören. Bezogen auf Lisas Schrei-Verhalten sowie das Trauma unter der Geburt und die Medikamentengabe im siebten Schwangerschaftsmonat, war er der Erste, der die Diagnose Frühkindliche Regulationsstörung stellte. Gerade das exzessive Schreien, die fehlende Selbstregulation sowie die Probleme bei der Schlaf-Wach-Regulation trafen auf Lisa zu. Auf dieser Diagnose basierend, konnte uns der Kinderarzt weitere Schritte empfehlen. So sollten wir uns beispielsweise während der ersten drei Monate immer in derselben Umgebung, sprich zu Hause, aufhalten, um Lisa nicht zu überreizen.

Angelina: „Fangen Sie mit einem Zimmer an!“, lautete ein mir unvergessener Satz unseres Kinderarztes. Ich kann es im Nachhinein selbst nicht glauben, aber diesen Ratschlag zogen wir tatsächlich durch. Die erste Zeit hielten wir uns mit Lisa fast nur im Wohnzimmer auf, dann kamen die restlichen Zimmer unserer Wohnung an die Reihe. Ich trug Lisa permanent im Tragetuch bei mir, um ihr durch körperliche Nähe das Gefühl von Ruhe und Geborgenheit zu vermitteln. Der Kinderwagen stand die ersten Monate unbenutzt in der Garage.

Nach einiger Zeit wagte ich einen täglichen Gang zum Bäcker – meist mit schreiendem Kind. Nach einer Weile dehnte ich meine Runden aus, damit Lisa lernte, auch unterwegs im Tragetuch zu schlafen. Häufig lief ich zwei bis drei Stunden durch die Straßen unseres kleinen Ortes, bis Lisa irgendwann einschlief. Ein Marathon, vor allem emotional.

Ein Marathon, bei dem kein Ziel in greifbarer Nähe lag, kein Ende absehbar war. Wie sah es zu diesem Zeitpunkt gefühlsmäßig in Euch aus?

Angelina: In mir herrschte eine unglaubliche Wut, dass die Situation ist, wie sie ist. Parallel dazu stellte sich das Gefühl einer tiefen Enttäuschung ein. Wir hatten uns alles während der Schwangerschaft so anders ausgemalt. Nun standen wir da, geplagt von Selbstzweifeln, überfordert und hilflos. Und mit dem Wissen versehen, dass wir unserer Lisa noch mehr Liebe und Geborgenheit geben müssen, denn danach schrie sie ja regelrecht. Aber wie lassen sich Liebe und Wut unter einen Hut bringen? Und wie kann man Geborgenheit geben, wenn man selbst zweifelt und seine Intuition, sein Bauchgefühl, das einem sagt, was richtig oder falsch ist, verloren hat? Denn egal, was ich tat, ich hatte ja kaum Erfolg, Lisa zu beruhigen.

Ich fühlte mich betrogen um die schöne erste Zeit mit Baby. Um all die Freude, die Besucher, um den Stolz, das eigene Wunschkind gesund und munter präsentieren zu können. Ich wollte unter Leute und ein sozial halbwegs normales Leben führen, wie wir es vor Lisas Geburt getan hatten. Doch wir konnten nirgendwo hingehen, geschweige denn irgendwo mit dem Auto hinfahren. Lisas Geschrei begleitete uns bei allen Aktivitäten.

Deniz: Ich fühlte mich ebenfalls sehr unzulänglich. An das Hineinfinden in die Rolle des starken Papas, der Frau und Kind umsorgt, war nicht zu denken. Diese Hilflosigkeit, die ich bereits im Krankenhaus unter der Geburt verspürt hatte und die sich wie ein roter Faden durch die nächsten Monate zog, belastete mich. Ich hatte Angst, keine Stütze zu sein, meiner Vater-Rolle nicht gerecht werden zu können. Die ganze Situation war purer Stress.

Wie gestaltete sich Euer Leben als Paar in dieser schwierigen Familienphase?

Deniz: Eigentlich teilten wir uns permanent auf. Natürlich gab es mal einen gemeinsamen Spaziergang. Aber alles fand immer genau überlegt statt. Wir wollten Lisa nicht zu viel zumuten, sahen deshalb von größeren Unternehmungen ab. Als Paar waren wir früher sehr aktiv gewesen. Dass wir das mit Kind nun nicht mehr sein konnten, war ein zu diesem Zeitpunkt dominierendes Gefühl. Ein Gefühl der Endgültigkeit, das ziemlich frustrierte.

Angelina: Alles drehte sich permanent um unser Kind. Bis zu einem gewissen Grad ist das sicher normal und bei allen frischgebackenen Eltern so. Bei uns ging unser Einsatz aber definitiv über das Normalmaß hinaus. Und natürlich ging das zu Lasten unserer gemeinsamen freien Zeit, zu Lasten unserer Beziehung. Wenn Lisa abends endlich eingeschlafen war, war ich so müde, dass ich selbst gleich mit schlafen ging. Ich hatte nicht mehr die Kraft für Unterhaltungen, selbst wenn wir abends mal eine Stunde Ruhe hatten. Das war eine sehr schwierige Situation. Oft war ich wütend, weil ich mir immer wieder die Frage stellte, warum die Umstände so sind, wie sie sind. Und wie es sein kann, dass wir so von dieser neuen Lebenssituation dominiert werden und wie unfair das ist. Unsere Liebe war ja noch sehr jung, wir waren knapp anderthalb Jahre zusammen, als Lisa geboren wurde. Ich fragte mich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, mit einem Baby zu warten, damit wir unsere Zweisamkeit intensiver, sprich länger, hätten ausleben können.

Trotz aller Wut und Ängste wusstet Ihr: Es muss irgendwie weitergehen. Welche weiteren Schritte seid Ihr gegangen und wer konnte Euch mit professionellem Rat unterstützen?

Angelina: Unser Kinderarzt gab uns einige Empfehlungen, welche Beratungsstellen wir aufsuchen sollten. Er stellte alle notwendigen Überweisungen aus und war sehr mitfühlend und geduldig.

Unser erster Weg führte uns in die Schreiambulanz bzw. zu einer dort angegliederten Psychotherapeutin. Sie sollte uns vermitteln, wie wir unser Baby besser beruhigen, seine psychischen und physischen Spannungskräfte begreifen und unsere eigenen Kräfte aktivieren können. Doch die erste, und letzte, Familiensitzung war furchtbar. Lisa schrie die ganze Zeit im Tragetuch. Die wenig empathische Therapeutin redete permanent auf uns ein und äußerte Sätze wie: „Sagen Sie Ihrem Kind, dass Sie es lieb haben.“ Solche „Ratschläge“ stellten natürlich keinerlei Hilfe im Alltag dar, die wir uns von diesem Termin so dringend erhofft hatten. Alles blieb graue Theorie, nichts war praktikabel. Generell ist die Schreiambulanz sicherlich eine sinnvolle Einrichtung. Wir hatten eben Pech und gerieten an eine sowohl fachlich als auch menschlich wenig kompetente Gesprächspartnerin.

Der Termin bei der Erziehungsberatungsstelle unseres Landkreises hingegen war toll. Im ersten Moment dachten wir: „Was sollen wir denn da? Erziehung fängt doch erst viel später an.“ Die Dame von der Erziehungsberatungsstelle kannte sich jedoch sehr gut mit Babys aus und nahm als stiller Beobachter an unserem Miteinander teil. Sie reflektierte, wie unsere Interaktion mit unserem Kind abläuft, und gab uns daraufhin Feedback, was wir besser oder anders machen können. All das geschah sehr liebevoll, ohne große Worte oder Kritik. Das war unglaublich wohltuend.

Deniz: Weitere Anlaufstellen waren der Orthopäde und der Osteopath. Der Orthopäde führte bei Lisa einen kompletten Check-up des Bewegungsapparates durch, stellte Rezepte für die Physiotherapie aus und erklärte uns Übungen für zu Hause. Der Osteopath vermutete, dass Lisas Wirbelsäule durch den langen Aufenthalt im Geburtskanal und das Zurückdrängen in den Mutterleib belastet worden sei und sie eventuell Schmerzen habe. Lisa steckte der Stress der Geburt bildlich gesprochen noch immer in den Knochen.

Gab es denn eine Beratung oder eine konkrete Behandlung, die Lisa nachhaltig helfen konnte?

Angelina: Durch jeden Besuch beim Facharzt oder bei anderen Beratungsstellen erhielten wir neue Anregungen, die uns gefühlt weiterhalfen. Rückblickend waren diese Termine für uns vor allem psychologisch wichtig. Die Aussicht auf das nächste Gespräch, auf jede weitere fachliche Meinung, gab uns immer wieder neue Hoffnung und ließ uns emotional durchhalten. Wir dachten: „Nächste Woche haben wir das und das Beratungsgespräch, danach wird alles besser.“ So hangelten wir uns durch die Wochen und Monate.

Der erste Besuch beim Osteopath war beispielsweise sehr erfolgversprechend gewesen. Lisa blieb während der gesamten Behandlung ruhig und fühlte sich wohl. Wir fuhren überglücklich nach Hause und waren uns sicher: „Jetzt geht es bergauf!“ Endlich schien der richtige Ansatz gefunden. Wir fieberten dem nächsten Termin förmlich entgegen. Doch die Ernüchterung folgte auf dem Fuße: Bei der zweiten, der dritten, der vierten Behandlung schrie Lisa die ganze Zeit durch. Auch die Physiotherapie erschien anfänglich vielversprechend. Die Therapeutin war auf Säuglinge und Kinder spezialisiert, erschien kompetent und einfühlsam. Doch jede Sitzung endete mit dem gleichen Fiasko: Lisa schrie so sehr, dass wir die Übungen häufig sogar abbrechen mussten. Aus lauter Verzweiflung weinte ich mit. Wieder war aus einem Rettungsanker kein Patentrezept geworden.

Konntet Ihr an diesem Punkt überhaupt noch Kraft zum Austausch mit Ärzten und Beratungsstellen aufbringen oder Sozialkontakte zu anderen betroffenen Eltern aufbauen?

Angelina: Langsam stellte sich bei Deniz und mir Ernüchterung ein, denn abschließend helfen konnte uns bzw. Lisa niemand. Ein Patentrezept gab es nicht. Wir erhielten zwar viele Anregungen, aber eine finale Hilfestellung, mit der alles gut wurde, war nicht dabei.

Unsere Nerven lagen zu diesem Zeitpunkt ziemlich blank. Wir kamen nicht zur Ruhe, jeder simple Gang zum Supermarkt wurde zu einer Herausforderung. Wir wünschten uns einfach etwas Schlaf, Rhythmus und ein wenig Normalität in unserem jungen Familienleben. Natürlich ist die Frühkindliche Regulationsstörung keine schwere Krankheit, sondern schleicht sich irgendwann aus. Wann das der Fall sein würde, konnte uns niemand sagen. Und ich glaube, genau dieser Umstand rief meine Überlebensgeister auf den Plan. Ich wollte mich nicht unterkriegen lassen und wusste: Wir müssen da jetzt durch! Wir mussten auf uns vertrauen und darauf hoffen, dass unsere Situation irgendwann besser werden würde.

Als Lisa vier Monate alt war, starteten wir einen Pekip-Kurs (Prager Eltern-Kind-Programm). Pekip-Kurse dienen der Beobachtung und Wahrnehmung der Babys, um sie optimal begleiten und fördern zu können. Eigentlich traute ich mir und Lisa solch einen Kurs nicht zu. Aber die Kursleiterin bat mich eindringlich, am Kurs teilzunehmen, denn in ihren Augen stellte dieser Austausch für alle Beteiligten eine Bereicherung dar. Rückblickend bin ich dankbar für diese Möglichkeit. Lisa war zwar die ersten Male schnell aus dem Häuschen und schrie viel. Aber auch die anderen Babys waren hin und wieder überreizt und brüllten. Diese Erkenntnis tat mir gut und stärkte mich. Ich wollte mich nicht mehr verstecken, nur weil Lisa häufig weinte. Zwar hatte niemand in der Gruppe ein Schreibaby, aber auch bei den anderen Müttern und Vätern war nicht alles eitel Sonnenschein. Mit der Zeit schrie Lisa immer weniger und der Kurs begann uns richtig Spaß zu machen.

Ab dem Moment, als Du selbstbewusst Deinen eigenen Weg gegangen bist, wurde es auch für Lisa leichter. Eine vielleicht zufällige aber auf jeden Fall interessante Entwicklung.

Angelina: Nach wenigen Wochen hatte sich Lisa gut in die Pekip-Gruppe integriert. Auch Deniz und ich wurden lockerer. Wir bauten immer mehr Vertrauen auf – in uns, aber auch in unser Kind. Lisa schlief nun besser, war insgesamt ruhiger. Sie entwickelte sich altersgerecht, aß gut, krabbelte.

Und plötzlich erschien sie greifbarer: Die von uns ersehnte Normalität. Alles spielte sich ganz langsam ein und wir entwickelten als Familie unseren eigenen Rhythmus. Lisa war nach wie vor schnell überreizt und weinte. Inzwischen nahmen wir das aber viel gelassener, maßen diesen Dingen nicht mehr so viel Bedeutung bei und schenkten unserer Intuition wieder das verdiente Vertrauen.

Während meiner Schwangerschaft hatten wir viele Pläne für die Babypause gehabt. Wir wollten reisen und unterwegs sein. Auf mich warteten außerdem die Unterlagen für mein geplantes Fernstudium. Alles Pläne, die wir hatten auf Eis legen müssen. Aber mit jedem Fortschritt, den Lisa machte, stand ich all dem versöhnlicher gegenüber. Ich wusste einfach, dass es endlich bergauf gehen würde.

Gab es in dieser positiven Phase ein Ereignis, das Euch nochmals besonders ermutigte und stärkte?

Angelina: Es gab sogar eine Entwicklung, die uns regelrecht überrumpelte. Aus finanziellen Gründen musste ich nach 16 Monaten Elternzeit eigentlich wieder in meinen Job zurückkehren. Deniz und ich waren hin- und hergerissen. Lisa hatte sich in den letzten Wochen toll entwickelt. Dennoch blickten wir auf eine sehr anstrengende Zeit zurück, in der es ihr oft nicht gut gegangen war. Wie konnten wir unser Kind da guten Gewissens in fremde Hände abgeben? Doch das erste Kennenlernen in der Kindertagesstätte verlief denkwürdig positiv. Lisa war gut gelaunt und fühlte sich auf Anhieb wohl. Die Atmosphäre in der Einrichtung war angenehm, die Erzieherinnen liebevoll und fürsorglich. Wir schöpften Mut und verabredeten, mit der mehrwöchigen Eingewöhnungsphase zu beginnen. Schon nach wenigen Tagen blieb Lisa bereits allein in der Kita. Sie löste sich ohne Probleme von mir. Von den Erzieherinnen kam täglich die Rückmeldung, dass unsere Tochter ein kleiner Sonnenschein sei. Aus unserer Lisa war ein ganz anderes Kind geworden. Nach wenigen Wochen stieg ich tatsächlich wieder in meinen alten Job ein und arbeitete an drei Tagen pro Woche für jeweils fünf Stunden. Und holte nach der Arbeit ein munteres, zufriedenes Kind aus der Kita ab, das freundlich, kommunikativ und voller Selbstvertrauen war.

Habt Ihr eine Erklärung für diese tolle Entwicklung, die Ihr so viele Monate herbeigesehnt habt?

Angelina: Ich glaube, dass uns unsere Intuition vielleicht doch nie ganz verlassen hat. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich Lisa viel Nähe geben muss, damit sie loslassen und ihren Weg gehen kann. Egal, wie viel sie schreit und tobt. Manchmal hätte ich sie natürlich am liebsten abgelegt, die Tür zugemacht und einfach mal fünf Minuten durchgeatmet. Aber mein Bauchgefühl sagte mir etwas anderes und das hat mich bzw. uns durchhalten lassen. Irgendwann musste es einfach besser werden, diese Hoffnung habe ich nie aufgegeben.

Auf unser Durchhaltevermögen und auf Lisas Entwicklung bin ich sehr stolz. Geholfen hat uns natürlich auch das Wissen, dass die Frühkindliche Regulationsstörung kein endgültiger Dauerzustand sein würde. Wir setzten einfach immer darauf, dass wir durch diese schwere Zeit durchmüssen und dass sich danach alles zum Guten wenden würde. Dass in unserer Beziehung zu Lisa in der Anfangsphase viel Wut und Verzweiflung gehört haben, das müssen wir abschließend so annehmen. Dennoch haben wir es geschafft, mit viel Zuwendung und Fürsorge eine stabile Basis für Lisas Zukunft zu legen, auch wenn ihr Start ins Leben alles andere als leicht war.

Deniz: Rückblickend weiß ich oft gar nicht mehr, woher wir die Kraft genommen haben, das alles durchzustehen. Vieles schien, gerade in den ersten Wochen, so ausweglos. Ich hatte zwei Monate Elternzeit genommen, deren Verlauf wir uns ursprünglich ganz anders und viel sorgloser ausgemalt hatten. Aber trotzdem waren diese acht Wochen wichtig. In dieser Zeit habe ich Lisa besser kennen gelernt, habe erkannt, dass auch ich für sie da sein kann und dass es wichtig ist, dass sie beide Bezugspersonen, Vater und Mutter, um sich hat, um Selbstvertrauen und Bindung aufzubauen. Das gab auch mir Selbstvertrauen.

Angelina und ich hatten einige Krisen. Aber Lisas Entwicklungsschritte haben uns wieder zusammengeschweißt.

Was könnt Ihr betroffenen Eltern raten, deren Baby an einer Frühkindlichen Regulationsstörung leidet?

Deniz: Für uns war es wichtig, so viele Anlaufstellen wie möglich zu konsultieren. Natürlich hatte niemand ein Patentrezept, wie wir feststellen mussten. Aber immer wieder gab es eine Anregung, die unsere Situation etwas verbesserte. Ich kann daher nur empfehlen, alles mitzunehmen, was es an Hilfestellungen gibt, und das Baby ganzheitlich zu betreuen, sprich Körper und Seele mit Therapiemaßnahmen anzusprechen. Wir haben aus jeder Beratung etwas mit nach Hause genommen. Und irgendwann haben wir uns nicht mehr versteckt, sondern sind in die Offensive gegangen. Das „offizielle“ Sich-Auseinandersetzen mit unserer herausfordernden Familiensituation hat uns unser Selbstvertrauen Stück für Stück zurückgegeben. Und Lisa hat das im positiven Sinne sofort gespiegelt. Mir fällt dazu ein schönes Zitat von Rudolf Steiner ein: Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.

Angelina: War das Zitat nicht von Goethe?

Deniz: So viel zu unseren heutigen Herausforderungen …