
Späte Eltern – Mama werden mit 53
Astrid und Peter werden mit Anfang 50 zum ersten Mal Eltern. Nach anfänglichem Schock genießen die beiden Astrids Schwangerschaft und ihre späte Elternschaft, haben jedoch mit einigen Vorurteilen zu kämpfen. Als Peter schwer an Krebs erkrankt, ist Astrid für eine Sache besonders dankbar: Dass die gemeinsame Tochter Peter Lebensmut und Ablenkung schenkt. Das Interview mit Astrid findet Ihr auch in meinem Buch “Anders als erwartet − Von besonderen Herausforderungen in der frühen Familienphase”.
Liebe Astrid, die Geburt Eures ersten Kindes machte Eure langjährige Partnerschaft perfekt. Doch es gab eine außergewöhnliche Tatsache, die Euch als werdende Eltern ausmachte. Welche Besonderheit war das?
Als ich von meiner Schwangerschaft erfuhr, waren mein Mann Peter und ich seit 26 Jahren verheiratet. Wir haben uns immer Kinder gewünscht, doch leider bin ich nie schwanger geworden. Wir hatten uns untersuchen lassen, waren beide gesund. Eine künstliche Befruchtung war für uns nie in Frage gekommen, wenngleich besonders mich unser unerfüllter Kinderwunsch lange Zeit belastete. Nach all den Jahren war es mehr als unwahrscheinlich, dass ich doch noch schwanger werden würde, und ich muss gestehen, dass das Thema Verhütung längst keine Rolle mehr für uns spielte. Als meine erste Schwangerschaft festgestellt wurde, war ich dreiundfünfzig Jahre alt.
Wie reagierten Peter und Du auf diese Nachricht?
Für uns war diese Mitteilung durch den Frauenarzt ein Schock. Natürlich ein positiver Schock, aber dennoch ein Schock. Seit Jahren war das Thema Familienplanung für uns abgehakt. Mein Mann, der einige Jahre älter ist als ich, wollte vorzeitig in den Ruhestand gehen. Ich war zur Zeit meiner Schwangerschaft Lehrerin an einem Gymnasium in unserer kleinen Stadt. Wir lebten ein sehr ruhiges Leben, ohne große Aufregungen. Noch Tage nach meinem Besuch beim Frauenarzt waren wir verwirrt und überrumpelt, denn der Gedanke, dass wir in wenigen Monaten zu dritt sein sollten, überstieg unsere Vorstellungskraft. Dass ich während unserer bisherigen Ehe nie schwanger geworden war und nun, mit dreiundfünfzig Jahren, ohne Hormonbehandlung oder Ähnliches, ein vier Monate altes Baby in mir trug, war beglückend und verunsichernd zugleich.
Wie verliefen die kommenden Wochen und Monate für Euch als werdende Eltern?
Einerseits etwas konfus, weil wir anfänglich gar nicht so genau wussten, wo wir ansetzen und welche Dinge wir als erste in Angriff nehmen sollten. Andererseits waren wir sehr ruhig. Wir begannen, Elternratgeber zu lesen und uns mit der ersten Babyausstattung zu beschäftigen. Denn in diesen Themen waren wir gänzlich unerfahren und konnten uns auch mit Freunden nicht tiefergehend austauschen, da deren Kinder längst im jungen Erwachsenenalter waren. Da wir beide nie in den Genuss gekommen waren, Onkel oder Tante zu sein, hatten wir bisher wenig Berührung mit Babys oder Kleinkindern gehabt.
Ich musste relativ engmaschig Kontrollen beim Frauenarzt vornehmen lassen. Nicht besonders feinfühlig hatte mich dieser mehr als einmal darauf hingewiesen, dass es in meinem Alter sehr wahrscheinlich sei, dass ich das Baby verlieren würde oder dass wir aufgrund einer Chromosomenstörung ein behindertes oder krankes Kind, beispielsweise mit einem Gendefekt, bekommen könnten. Doch unser Mädchen war gesund. Und auch mir ging es gut, wenngleich ich mich wie eine alte Frau fühlte und sicherlich aufgrund meines Alters, vor allem in der fortgeschrittenen Schwangerschaft, Beschwerden hatte, die ich als dreißigjährige Schwangere wahrscheinlich nicht gehabt hätte. Mich plagten Rückenschmerzen, dann kamen starke Knieschmerzen und Beschwerden mit dem Steißbein dazu. Aber das alles war natürlich aushaltbar und die Freude auf unser Kind wuchs von Tag zu Tag.
Uns wurde immer bewusster, was diese Schwangerschaft für ein Geschenk war. Wir waren so viele Jahre glücklich in unseren Berufen gewesen, hatten unsere Zweisamkeit ausgekostet, hatten schöne Reisen unternommen. Unser unerfüllter Kinderwunsch hatte uns viele Jahre lang belastet. Nun, in einer Phase, wo wir mit diesem Thema abgeschlossen hatten, doch noch Nachwuchs zu erwarten, war ein unglaubliches Gefühl. Natürlich waren wir keine jungen Eltern mehr, aber wir hätten wahrscheinlich zu keiner anderen Zeit mehr bereit für ein Baby sein können als zu dieser.
Wie erlebte Dein Mann Peter Eure neue Lebenssituation?
Peter war im positiven Sinne hin und weg. Durch seinen baldigen Vorruhestand konnte er unsere Milli als Vollzeit-Vater begleiten. Ich hatte drei Jahre Elternzeit beantragt und wir freuten uns auf diese intensive Zeit als kleine Familie. Es gab einfach nichts, um das wir uns Sorgen machen mussten. Unsere finanzielle Situation war gefestigt, die Wohnung war groß genug für ein Kind. Durch den Geburtsvorbereitungskurs oder das Schwangeren-Yoga ergaben sich nette Kontakte zu Frauen, die teilweise fünfundzwanzig Jahre jünger waren als ich. Das empfand ich als große Bereicherung, da diese Frauen doch etwas sorgloser waren, als ich es gewesen bin. Denn natürlich konnten wir uns ausrechnen, dass ich beim Führerschein oder Abschlussball unserer Tochter siebzig und mein Mann an die achtzig Jahre alt sein würden. Doch was halfen diese Rechnereien? Wir lebten im Hier und Jetzt.
Wie war die Resonanz Eures Umfelds auf Deine Schwangerschaft?
In unserem Ort hatten wir nicht nur mit erheblichen Vorurteilen, sondern beinahe schon mit Anfeindungen zu kämpfen. Einige Nachbarn oder weitläufige Bekannte waren, ohne uns näher zu kennen, der Meinung, wir hätten eine künstliche Befruchtung vornehmen lassen. Anfänglich klärte ich Hinz und Kunz ausführlich darüber auf, wie überrascht wir selbst von der Nachricht, Nachwuchs zu erwarten, gewesen waren und dass ich ungeplant auf natürlichem Wege schwanger geworden sei. Doch ich merkte, dass es den Leuten primär darum ging, auf ihren Spekulationen herumzureiten, ungeachtet dessen, was ich erzählte und richtig stellte. Je mehr ich mich bemühte, unsere Situation darzulegen, desto mehr klang das nach Rechtfertigung. Das ging mir so sehr gegen den Strich, dass ich mich gar nicht mehr äußerte.
Besonders verletzend war für mich ein Anruf, der bei der Leitung meiner Schule einging. Eltern beschwerten sich über meine Schwangerschaft und zweifelten an, dass ich nach meiner Elternzeit in meinen Beruf zurückkehren könnte, bzw. schlugen vor, dass ich vorzeitig freigestellt werden sollte. Meine Vorbildfunktion sei in Mitleidenschaft gezogen. Dabei hatte es an unserer Schule in den letzten Jahren nicht nur zwei schwangere Teenager gegeben, sondern auch ältere Kolleginnen, die noch ein Kind erwarteten. Aber keine von ihnen hatte bei ihrer ersten Schwangerschaft die magische Grenze der fünfzig überschritten.
Spielten sich die Anfeindungen, von denen Du gesprochen hast, hauptsächlich Dir gegenüber ab?
Fast ausschließlich mir gegenüber. Je mehr mein Bauch wuchs, desto häufiger wurde ich im Ort angestarrt und teilweise sogar nicht mehr gegrüßt. Mein Mann machte solche Erfahrungen kaum. Seine Kollegen gratulierten, die Sportgruppe stieß beim Freitags-Stammtisch regelmäßig auf unser Wohl an. Diese altmodische Trennung in Mann und Frau verletzte mich. Als Mann ist man ein toller Hecht, wenn man mit sechzig noch ein Kind zeugt. Aber eine späte Mutter finden die Leute befremdlich, wenn nicht gar anormal, und man fühlt sich beinahe schuldig, wenn man in diesem Alter noch (ungeplant) schwanger wird. Als unser Vermieter uns die Wohnung, in der wir zu diesem Zeitpunkt seit über zwanzig Jahren lebten, wegen angeblichen Eigenbedarfs kündigte, brach für mich eine kleine Welt zusammen. Ich glaubte zu spüren, dass er, ein älterer Herr, aufgrund meiner Schwangerschaft nicht mehr mit uns unter einem Dach leben wollte. Auf mein Drängen hin zogen wir in die nächstgrößere, fünfzehn Kilometer entfernt gelegene Stadt. Wir fanden eine schöne Erdgeschosswohnung mit Garten und meisterten den Umzug mit Hilfe unserer engsten Freunde. Früher hatten wir es uns nicht vorstellen können, aus unserem kleinen Ort wegzuziehen. Doch in unserer neuen Lebenssituation stellte die Anonymität einer 25.000-Seelen-Gemeinde einen regelrechten Zufluchtsort dar.
Sind Eltern bzw. Mütter über fünfzig ein Tabuthema?
Späte Eltern liegen eigentlich im Trend. Wobei der Begriff späte Eltern natürlich dehnbar ist und sicher eher Frauen bis Anfang oder Mitte vierzig meint. Generell habe ich das Gefühl, dass für Mütter jenseits der fünfzig andere Maßstäbe gelten und der gesellschaftliche Druck hoch ist. Bei Müttern in meinem Alter spielt die klassische Frage, ob wir es schaffen, Job und Familie unter einen Hut zu bringen, beispielsweise kaum eine Rolle. Vielmehr wird schnell die geringere Vitalität bzw. die kürzere gemeinsame Lebenszeit mit dem Nachwuchs als Argument gegen eine späte Elternschaft ins Feld geführt. Natürlich kann ich mit sechzig nicht mehr so schnell rennen oder so gut Fußball spielen wie mit dreißig und natürlich werde ich mein Kind wahrscheinlich nicht die nächsten vierzig Jahre begleiten können. Und vielleicht gibt es tatsächlich einen Generationenkonflikt und wir haben keine gemeinsame Gesprächsbasis mehr, wenn unsere Tochter in die Pubertät kommt. Aber das kann auch passieren, wenn wir zwanzig Jahre jünger wären.
Die Erfahrung, dass späte Mütter ein Tabuthema sein können, machte ich leider auch im engsten Familienkreis. Als ich meiner Schwester, die kinderlos und alleinstehend ist, von meiner Schwangerschaft erzählte, reagierte diese entsetzt. Sie fand es verantwortungslos, dass Peter und ich ein Kind in die Welt setzten, das zwangsläufig mit dem „Makel“ der alten Eltern aufwachsen müsse. Unser bis dato enger, herzlicher Kontakt bekam einen richtigen Knacks und brach gegen Ende der Schwangerschaft beinahe gänzlich ab. Sicherlich ging mit der Vehemenz, mit der meine Schwester gegen unsere späte Elternschaft anredete, auch eine gewisse Traurigkeit einher, denn Gundel hatte sich ebenfalls immer Kinder gewünscht, und bis dahin hatten wir als kinderlose Schwestern im selben Boot gesessen. Nun freute ich mich auf etwas, auf das sie ebenfalls viele Jahre gewartet und vergeblich gehofft hatte.
Insgesamt fühlte ich mich trotz aller Querelen umso stärker, je näher die Geburt unserer Tochter rückte. Ich spürte, dass unser Kind richtig bei uns war und dass wir als Eltern absolut bereit für unsere Elternschaft waren.
Im Krankenhaus wurden wir unter der Entbindung von der Hebamme und den Ärzten sehr liebevoll unterstützt. Es wurde keinerlei Bewertung unserer Familiensituation vorgenommen oder unser Alter kommentiert. Alles verlief gut und wenige Stunden später wurde Milli auf natürlichem Weg geboren. Peter war während der ganzen Geburt dabei und hielt als Erster stolz unser Baby im Arm.
Dein Mann war kurz vor der Geburt Eurer Tochter in den Vorruhestand gegangen. Zwei Vollzeit-Eltern unter einem Dach – wie funktionierte das?
Es funktionierte klasse. Wir teilten uns alle Aufgaben, unternahmen viel gemeinsam und hatten parallel dazu nie ein Betreuungsproblem, wenn einer von uns beiden einkaufen, ausruhen oder Freunde besuchen wollte. Dass unser Familienleben so ganz ohne Druck und Stress verlief, war ein absolutes Privileg. Für mich war dieses Glück beinahe unrealistisch. Wenn ich morgens vom Gebrabbel unserer Milli geweckt wurde, die Augen aufschlug und Peter mit ihr im Arm im Bett sitzen sah, fühlte ich mich wie in einer anderen Welt. Die Dankbarkeit über dieses Kind, das wir in unserem Alter hatten empfangen dürfen und nun in den Armen hielten, verspürte ich jeden Tag aufs Neue. Milli genoss die volle Aufmerksamkeit von uns beiden. Und wir mutierten zu albernen, verspielten Eltern, sobald wir unsere Tochter im Arm hielten. Unser „reifes“ Alter trat dann sofort in den Hintergrund und wir waren wahrscheinlich kindlicher als so manch zwanzig Jahre jüngeres Elternpaar.
Spielte Euer Alter im Alltag mit Eurem Baby eine Rolle?
Unser Leben zu Hause spielte sich recht schnell ein und war so, wie ich es mir immer erträumt und viele Jahre gewünscht hatte. Natürlich merkte ich, dass ich keine zwanzig mehr war. Mehrfach in der Nacht aufzustehen, den Kinderwagen oder den Maxi-Cosi in der Stadt die Treppen hoch und runter zu schleppen, das alles verlangte mir schon viel ab. Auch traute ich mich beispielsweise nicht, mit Milli im Kindersitz Fahrrad zu fahren, als sie größer geworden war. Man ist vielleicht nicht mehr ganz so unbesorgt bzw. denkt mehr über die Konsequenzen des eigenen Handelns nach, wenn man älter und Mutter eines kleinen Kindes ist. Bezüglich der körperlichen Belastungen war ich mir darüber im Klaren, dass diese noch zunehmen würden, wenn unsere Tochter krabbeln und laufen lernte. Gleichzeitig merkte ich, wie jung es Peter und mich hielt, wieder mehr in Bewegung zu sein und das Leben durch eine ganz andere Brille zu betrachten. Unseren Berufen und Hobbies waren wir lang genug nachgegangen. Jetzt war ein anderer Alltag angesagt und ein ganz neues Lebensgefühl stellte sich ein.
Von Außenstehenden wurde uns unser Alter natürlich hin und wieder aufgezeigt, denn manchmal wurden wir für Millis Großeltern gehalten. Wenn wir dies korrigierten und uns als ihre Eltern outeten, waren die Reaktionen eigentlich durchweg positiv. Und die Selbstsicherheit, mit der wir unsere Elternrolle wahrnahmen, trug sicher maßgeblich zu diesen positiven Reaktionen bei.
Wie sah Eure Selbstsicherheit in Bezug auf Eure Elternrolle genau aus?
Wir wussten, dass wir Milli viel Lebenserfahrung bieten konnten. Wir waren zuversichtlich und geduldig, fokussierten uns auf die für uns wichtigen Dinge und genossen unsere Elternschaft ganz bewusst und intensiv. Und wir hatten viel Zeit im täglichen Leben. Das beruhigte uns. Wir mussten morgens nicht unter Hochdruck das Haus verlassen und Milli in eine Krippe oder zu einer Tagesmutter bringen, sondern konnten den Tag ruhig angehen. Auch veränderte sich meine Einstellung zu meiner Arbeit. Wenn ich hörte, dass Kollegen an meiner Schule befördert oder für gelungene Projekte ausgezeichnet worden waren, gönnte ich ihnen das von Herzen. Mein Job hatte für mich nicht mehr die Relevanz wie früher. Das war ein gutes Gefühl. Ferner spürte ich ganz deutlich, dass ich mich nicht mehr vom Leben und seinen Anforderungen verrückt machen ließ. Ich war gelassen. Der Perfektionsdruck, den ich früher oft verspürt hatte, war für mich kein Thema mehr. Dann war die Wohnung eben nicht aufgeräumt, mein Haar nicht frisch gewaschen. Ich musste keinen Normen mehr gerecht werden und war niemandem außer meinem Mann und meiner Tochter gegenüber verantwortlich.
Durch Milli fühlte ich mich stärker. Ich bin ein selbstbewusster Mensch, aber das Gefühl, in meinem Alter auf natürlichem Weg ein gesundes Kind zur Welt gebracht zu haben, beflügelte mich. Ich erinnere mich noch heute an das immer gegenwärtige Gefühl nach Millis Geburt: Alles war richtig und gut, wir waren angekommen. Wie unbegreiflich, dass uns nur diese wenigen glücklichen Monate vergönnt waren, die wahrscheinlich die schönsten meines Lebens waren.
Gab es ein bestimmtes Ereignis, das Euer glückliches Familienleben beeinträchtigte?
Peter hatte sich schon seit längerer Zeit nicht wohl gefühlt. Ich neckte ihn, dass das sicherlich an seinem Rentner-Dasein läge und er wohl ohne seine Arbeit nicht leben könne. Unser Hausarzt führte Peters Müdigkeit und sein diffuses Unwohlsein auf eine durch unsere neue Familiensituation bedingte Überlastung zurück. „Ach, Sie sind Vater geworden? Na, dann ist das doch alles kein Wunder!“, hieß es. Doch weiterführende Untersuchungen ergaben andere, schwerwiegende Gründe für Peters Beschwerden. Mein Mann war an Krebs erkrankt. Der Tumor hatte bereits gestreut. Lunge, Leber und Knochen waren betroffen. Operativ konnte nichts für Peter getan werden. Kurz nach der Diagnose ging es bei einem onkologischen Facharzt mit der ersten ambulanten Chemotherapie los. Peter war sehr tapfer und ertrug die Chemo bzw. die nachfolgenden Nebenwirkungen anfänglich voller Optimismus. Er konnte nur noch wenig essen, musste sich nach der Chemo häufig übergeben, schlief sehr viel. Bei uns zu Hause herrschte Ausnahmezustand. Ich war zutiefst erschüttert und traurig über Peters Erkrankung. Ich kümmerte mich um Milli und Peter, hatte jedoch das Gefühl, beiden nicht ganz gerecht werden zu können. Alle vierzehn Tage erhielt Peter ambulant eine Chemo. Nach drei Monaten wurde er erneut untersucht.
Was ergaben die Untersuchungsergebnisse?
Zumindest hatte der Krebs nicht weiter gestreut, die Tumormarker waren gesunken. Die Chemo wurde umgestellt, um die starken Nebenwirkungen zu verringern. Nach vier Wochen ging es in die nächste Runde. Schließlich öffnete uns eine Ärztin sehr einfühlsam die Augen über Peters Gesundheitszustand: Er hatte kaum eine Überlebenschance. Durch die Chemotherapie ließ sich der Krebs zwar momentan aufhalten, eine Heilung würde es jedoch nicht geben. Sechs bis zwölf Monate würde Peter wahrscheinlich noch leben. Alles, was darüber hinaus gehen sollte, wäre ein kleines Wunder. Ich konnte vor Kummer kaum an mich halten. Zu Hause weinte ich hemmungslos, ließ mich von Peter trösten. Ausgerechnet er, der Todkranke, spendete mir Trost. Peter wusste, dass er an seiner Krebserkrankung sterben und dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde. Wir weinten viele Stunden, denn wir hatten das Gefühl, alles, was wir durch Millis Geburt gewonnen hatten, verloren zu haben. Natürlich mussten wir um unserer Tochter Willen weitermachen, mussten kämpfen. Aber einen Kampf zu führen, der aussichtslos ist, das ist schwer.
Wer unterstützt Euch bei Eurem Weitermachen im Alltag?
Da ich weiß, dass mir die nächste Zeit alle Kraftreserven abverlangen wird, habe ich mir früh Hilfe geholt. Leider wurde uns keine Haushaltshilfe bewilligt. Aber über die Nachbarschaftshilfe der Diakoniestation kommt eine sehr nette Dame jeden zweiten Tag zu uns. Sie macht kleine Einkäufe, putzt und geht mit Milli spazieren. Das ist eine große Entlastung und Frau Freund ist mittlerweile eine Vertraute geworden. Bei unserem onkologischen Facharzt, der auch Hausbesuche macht, fühlen wir uns sehr gut aufgehoben. Für ihn gibt es keinen pünktlichen Dienstschluss, er kommt auch noch abends, wenn Peter ihn braucht. Für mich persönlich ist meine Schwester Gundel die wertvollste Stütze. Nachdem ich sie brieflich von Peters Erkrankung unterrichtet hatte, meldete sie sich sofort bei mir und wir sprachen uns aus. Bei Gundel kann ich mich jederzeit ausweinen und mich offen über alle Ängste und meine Verzweiflung austauschen. Denn von Peter halte ich meine negativen Emotionen – so gut es eben geht – fern, um ihn nicht zu belasten.
Trotz all der Hilfe und Unterstützung muss ich sagen, dass ich eigentlich bereits kurz nach Peters Krebsdiagnose das Gefühl hatte, über keine Kraftreserven mehr zu verfügen. Meine Gedanken und Sorgen rauben mir zu viel Energie. Und plötzlich fühle ich mich doch alt.
Dein Alter ist aktuell ein Thema für Dich?
Vielleicht nicht unbedingt mein Alter als solches, sondern eben doch die Tatsache, dass wir nun einmal keine jungen Eltern sind. Mit diesem Umstand hatte ich nach Millis Geburt nie gehadert, denn damals waren wir gesund. Kurz nach Peters Krebserkrankung erhielt unsere späte Elternschaft für mich mit einem Mal einen negativen Beigeschmack. Denn die zahlreichen kritischen Stimmen schienen Recht gehabt zu haben: Alte Eltern sterben früher. Erst nach einigen Wochen begriff ich, dass es unsinnig ist, Peters Krankheit auf sein Alter zu schieben und dadurch unsere späte Elternschaft in Frage zu stellen. Denn auch jüngere Eltern können früh sterben. Dennoch bedrückt mich der Gedanke, Milli ohne Peter großzuziehen. Milli hat keine Großeltern und ich werde für sie allein verantwortlich sein und zukünftig alle Entscheidungen selbst treffen müssen. Was ist, wenn auch ich krank werde, vielleicht sogar früh sterbe? Mich plagen die Ängste um Peter und die Sorge, ob meine Kräfte für all das Kommende ausreichen werden. Meine Gedanken kreisen ständig um diese Fragen, die natürlich doch ein Stück weit mit meinem Alter zu tun haben.
Welche Fragen beschäftigen Dich noch?
Ich habe beispielsweise immer wieder darüber nachgedacht, was es für einen Sinn haben soll, dass wir ein Kind geschenkt bekommen und diesem Kind nach kurzer Zeit der Vater genommen wird. Mein Mann gab mir darauf eine Antwort, die mir tatsächlich etwas Trost spendet. So ist sich Peter sicher, dass seine Krankheit lange Zeit vor Millis Geburt unbemerkt ihren Anfang genommen hat. Dass der Krebs einen zeitlich viel früheren Ursprung hat, haben auch die Ärzte bestätigt. Es ist einfach ein unglücklicher Zufall gewesen, dass die Erkrankung so lange unentdeckt blieb. Für Peter ist klar, dass Milli zu uns gekommen ist, um mich zu trösten und meinem Leben nach Peters Tod einen neuen Sinn zu geben. Zuerst waren Peters Gedankengänge für mich nicht nachvollziehbar bzw. ich konnte diese nicht annehmen. Doch nach einiger Zeit wurde seine Überzeugung auch zu meiner: Peter wäre vielleicht so oder so schwer erkrankt und hätte gehen müssen. Und unsere Tochter wird mir über die dunkle Zeit, die vor mir liegt, hinweghelfen. Für sie muss ich weitermachen. Dieses Versprechen habe ich Peter gegeben.
Wie geht Dein Mann mit seiner Erkrankung um?
Ich glaube, vor dem Sterben hat Peter keine Angst. Er hat auch nie den Ausspruch getätigt: „Wir hatten doch noch so viele Pläne!“ oder „Wir wollten doch noch die und die Reise machen!“ Dennoch ist er verzweifelt, mit Anfang sechzig sterben zu müssen. Ein langes Leben war für ihn, der sich immer gesund ernährte und Sport trieb, stets ein Ziel und er zweifelte nie daran, dieses Ziel zu erreichen.
Auch lässt ihn die Tatsache, dass er Milli in Zukunft nicht mehr begleiten kann, dass sie vielleicht keine konkreten Erinnerungen an ihren Vater haben wird, fast zerbrechen. Immer wieder muss ich Peter versprechen, Milli von ihm zu erzählen, ihn für sie greifbar zu machen und ihr zu vermitteln, dass er sie von einem anderen Ort aus sehen und beschützen wird.
Aktuell befindet sich Peter wieder in einer Phase mit Chemotherapie. Er ist so mutig und erträgt all die Nebenwirkungen tapfer. Und er setzt sich Meilensteine: Unseren Kurzurlaub an der Ostsee, meinen Geburtstag, Millis Geburtstag, vielleicht sogar Weihnachten. Peter kämpft um jeden Tag, den er mit Milli verbringen kann.
Glaubst Du, Peter kann seine Ängste und Schmerzen leichter ertragen, weil Milli da ist?
Davon bin ich fest überzeugt. Milli kann Peter nicht heilen, aber sie lindert seine Ängste und sein Leid. Hier schließt sich für mich der Kreis. Durch Milli wird Peter nicht leichter gehen können, im Gegenteil. Er kämpft um jede Stunde mit ihr. Aber im Alltag mit seiner Krankheit findet er durch Milli Ablenkung und Freude und leidet weniger. Ich kann nicht aufhören, mit unserer Situation zu hadern und zu verzweifeln. Der Gedanke, dass Milli ohne Vater aufwachsen wird, lässt mich sofort in Tränen ausbrechen. Aber eins weiß ich: Es ist, trotz aller Ausweglosigkeit, gut und wichtig gewesen, dass wir Milli bekommen haben. Sie wird später vielleicht nie ganz nachvollziehen können, wie sehr sie uns in diesen schweren Tagen hilft. Aber ich weiß, dass ihre Geburt vorherbestimmt war und zu unserem Schicksal gehört.
Was wünschst Du Dir?
In erster Linie wünsche ich allen späten Eltern Mut und Zuversicht für ihre neue Rolle. Und ich wünsche ihnen die Erkenntnis, dass ihr Alter kein Hindernis, sondern vielmehr eine Bereicherung im neuen Familienleben darstellt. Und dass sie unabhängig von der Meinung Dritter ihr Familienglück genießen und selbstbewusst und ohne Zweifel durch ihren Alltag mit Kind gehen. Denn eigentlich gibt es keine alten oder jungen Eltern, sondern nur gute oder schlechte. Niemand ist zu alt, um seinem Kind Liebe und Geborgenheit zu schenken. Egal was kommen mag und egal wie alt ich sein werde: Mein Platz ist bei Peter und Milli. Und meine Aufgabe ist es, beide bestmöglich zu begleiten und zu versorgen. Dass ich aktuell Mitte fünfzig bin, darf dabei keine Rolle spielen. Für Peter wünsche ich mir, dass er loslassen und friedlich gehen kann und auf seinem letzten Weg keine Schmerzen leiden muss. Und ich wünsche mir, dass ich Milli auf ihrem Abschlussball tanzen sehen werde. Und Peter im Geiste bei uns ist.
Sieben Wochen nach unserem Interview und wenige Tage nach Millis zweitem Geburtstag ist Astrids Mann Peter gestorben. Astrid hat Peter bis zum Schluss begleitet.
Das Gespräch mit Astrid gehörte übrigens mit zu den Interviews, auf die wir als Verlag am meisten Resonanz und Leserpost erhielten. Weitere Interviews zu besonderen Herausforderungen in der frühen Familienphase findet Ihr hier.