Jakob, unser Frühchen


Unsere Gastautorin Sarah erzählt, wie sie ihr erstes Kind in der 29. Schwangerschaftswoche auf natürlichem Weg zur Welt brachte. Sie berichtet von der schwierigen Zeit im Krankenhaus, sowie ihren persönlichen Höhen und Tiefen. Und sie erzählt, wie sich ihr turbulenter Alltag ganz allmählich zu einem ganz normalen Familienleben entwickelte. 

Kapstadt. Der Name dieser Stadt ist für mich untrennbar mit meiner ersten Schwangerschaft verbunden. Denn kurz vor Abreise erfahren mein Freund und ich, dass wir unser erstes Kind erwarten. Für mich ist diese Nachricht eine große, freudige Überraschung, denn als ich einige Zeit zuvor mit meiner Frauenärztin über meinen Kinderwunsch sprach, hieß es, dass eine Schwangerschaft auf natürlichem Weg aus hormonell-medizinischen Gründen eher unwahrscheinlich sei. Nach unserem Urlaub stehen die üblichen Vorsorgeuntersuchungen an. Das Baby entwickelt sich sehr gut und bis auf anfängliche Übelkeit verläuft die Schwangerschaft problemlos. Ich fühle mich gut. Ich lasse es langsam angehen, was das Einrichten des Kinderzimmers oder das Kaufen von Babykleidung angeht. Für einen Geburtsvorbereitungskurs haben wir uns angemeldet, er wird gut zehn Wochen vor Geburtstermin stattfinden. Die Geburt unseres Sohnes wird Anfang Juli erwartet.

Es ist Mitte April. Dem Baby und mir geht es prima. Als ich leichte Blutungen bekomme, suche ich umgehend meine Frauenärztin auf. Das Baby ist gesund, der Muttermund geschlossen, mein PH-Wert sowie die Auswertung am Wehenschreiber sind Ordnung. Einige Tage später bekomme ich Bauchschmerzen, die sich im Laufe des Nachmittags steigern. Am nächsten Tag, einem Sonntag, fahren wir vorsichtshalber ins Krankenhaus, da ich unter den immer wiederkehrenden Schmerzen nur noch liegen und kaum mehr laufen kann. Zu diesem Zeitpunkt befinde ich mich in der 29. Schwangerschaftswoche.

Im Krankenhaus werden wir sofort auf die Entbindungsstation geschickt. Eine Hebamme empfängt uns, ein Arzt wird geholt, die Oberärztin kommt hinzu. Hektik bricht aus. Die Ärzte versuchen, uns zu beruhigen. Unser Baby hätte auch jetzt schon „gute Chancen“, heißt es. Ich kann kaum fassen, was hier gerade geschieht. Ich befinde mich mitten in der Geburt unseres ersten Kindes. Zwölf Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Die Ärzte und Hebammen sind angespannt. Mir wird ein wehenhemmendes Mittel gespritzt, um Zeit zu gewinnen. Ein Krankenwagen wird geordert, um mich in ein anderes Krankenhaus mit Kinderklinik zu verlegen. Die Fruchtblase platzt. Der gerufene Krankenwagen wird wieder abbestellt. Eine Entbindung während der Fahrt wäre zwar möglich, für ein Frühchen jedoch zu riskant. Wir bleiben, wo wir sind. Aus dem Kinderkrankenhaus wird ein Spezialist angefordert. Als er im Türrahmen steht, ist die Geburt bereits in vollem Gang. Ich weiß anfänglich gar nicht, wie ich den Geburtsvorgang am besten unterstützen kann und was ich tun soll. Die Herztöne des Babys werden schlechter. Nebenan wird alles für einen Notkaiserschnitt vorbereitet. Die Oberärztin und die Hebamme unterstützen noch einmal mit konkreten Anweisungen. Von meinem Freund und dem Arzt in der Hocke gestützt, bringe ich unseren Sohn zur Welt. Jakob wiegt 1.480 Gramm und misst 43 Zentimeter. Nach der Erstversorgung darf ich kurz die Hand unseres Sohnes halten, dann wird Jakob im Transportinkubator auf die Frühchen-Intensivstation in eine andere Klinik verlegt.

Am Nachmittag des nächsten Tages werde ich auf eigenen Wunsch aus dem Krankenhaus entlassen. Ich will meinen Sohn sehen. Winzig klein liegt Jakob in seinem Bettchen − Sonden, Kabel und Schläuche, piepsende Monitore umgeben ihn. Beatmung über CPAP. Wir spüren, dass dieses kleine, zarte Leben an einem seidenen Faden hängt. Jakob hat Probleme mit der Atmung und häufig fällt die Sauerstoffsättigung im Blut ab. Leider dürfen wir nicht auf der Intensivstation übernachten. Zurück zu Hause überkommt uns eine große Leere. Da sitzen wir frischgebackenen Eltern hilflos auf der Couch, während unser Kind auf der Intensivstation liegt.

Der nächste Tag legt den Startschuss für das Ritual der kommenden Wochen fest: Milch abpumpen, mit Herzklopfen ins Krankenhaus fahren, auf der Intensivstation klingeln, Desinfektion, Bericht der Schwestern, hin und wieder ein Arztgespräch, eine kleine Hand im Inkubator streicheln. Muttermilch über die Sonde. Erste Kontakte in der Klinik zu Eltern in derselben Situation. So viele fragile kleine Leben, so viele Ängste und Hoffnungen. Nach einigen Tagen dürfen wir nach der Desinfektion in grüne Kittel schlüpfen und unser Baby im Arm halten. Endlich. Wir wagen das sogenannte Känguruhen. Jakob liegt auf der nackten Brust seines Vaters – ein tolles Gefühl. Doch oft schreit Jakob und lässt sich nicht mehr beruhigen. Häufig kommen mir die Tränen. Lehnt unser Sohn uns ab? Manchmal habe ich das Gefühl, als Mama zu versagen. Die räumliche Trennung, das Nicht-Stillen, die verlorene Babyzeit im Bauch … Um so vieles fühle ich mich betrogen. Doch es kann nur besser werden, hoffe ich.

Tag 7 nach der Geburt, es ist der 28. April. Als ich im Krankenhaus eintreffe, darf ich nicht zu Jakob. Sein Zustand habe sich verschlechtert, heißt es. Die Atmung setzt häufig aus, die Herztöne schwanken. Ein Darminfekt wird vermutet. Die Ärzte kommen. „Bitte nehmen Sie Platz. Wir möchten, dass Sie bei diesem Gespräch lieber sitzen.“ Wortfetzen rauschen in meinen Ohren. Intubieren aufgrund respiratorischer Insuffizienz. Stabilisieren. Blutschnelltest. Ich rufe meinen Freund an, der sofort ins Krankenhaus kommt. Nach einigen Stunden die gute Nachricht: Jakob geht es besser. Wir halten seine Hand. Wir singen. Wir reden. Wir lesen vor. Und weinen vor Erleichterung, als die Laborergebnisse zeigen, dass Jakob gesund ist und sich keinen Infekt zugezogen hat.
Dennoch schlafe ich nachts schlecht. Oft packt mich die Angst, das Telefon könnte klingeln und die Klinik mit schlechten Nachrichten am Apparat sein. Erst nach Tagen finde ich einigermaßen zu mir selbst zurück. Ich verbringe so viel Zeit wie möglich auf der Intensivstation an Jakobs Bett. Selbst wenn ich nur kurz einkaufen gehe, habe ich ein schlechtes Gewissen. Seit dem 28. April habe ich eine regelrechte Neurose entwickelt: Hände waschen, alles desinfizieren, Mundschutz, wenn ich bei Jakob bin. Kein Keim soll das Leben unseres Sohnes in Gefahr bringen. Leider ziehe ich mir eine starke Erkältung zu. Auf Anraten meines Arztes soll ich der Intensivstation für mindestens eine Woche fernbleiben. Diese sieben Tage sind eine schwere Zeit für mich, denn natürlich möchte ich für meinen Sohn da sein und ihn spüren lassen, dass er nicht allein ist. Während meiner Krankheitswoche erlebt mein Freund mehrfach, wie Jakob blau anläuft, als die Schwestern versuchen, ihn an das Fläschchen zu gewöhnen. Jakob lernt das selbstständige Trinken nur schwer, er ist einfach noch nicht so weit. Bei fast jedem Trinkversuch verschluckt er sich, so dass wir Angst haben, er könne ersticken. „Das ist normal.“, meinen die Schwestern. „Normal ist für mich schon lange nichts mehr.“, denke ich.

Jakob verlässt die Intensivstation nach sieben Wochen und wird auf die Neugeborenen-Station verlegt. Ich bin fast jede Nacht bei ihm. Jakob ist im Großen und Ganzen stabil. Ein Schädelsonogramm zeigt, dass unser Sohn eine intraventrikuläre Hämorrhagie 1. Grade erlitten hat, das ist eine Vorstufe zur Hirnblutung. Neurologische Auswirkungen sind zu diesem Zeitpunkt nicht feststellbar. Der Entlassungstermin rückt immer näher. Einerseits freuen wir uns, andererseits wächst die Unsicherheit. Wie sollen wir das alles zu Hause schaffen? Was ist, wenn wir etwas falsch machen? Wenn wir notfallmäßig eine medizinische Erstversorgung benötigen?

Neun Wochen sind seit der Geburt vergangen. Der Tag der Entlassung ist da. Der Entlassungsbericht ist vier Seiten lang. „Wegen wiederholten Sättigungsabfällen, im Schlaf bis zu 49%, und Bradykardien, erfolgte die Anlage eines Heimmonitors und ein Reanimationstraining der Eltern.“ Ein Heimmonitor zur Überwachung der Sauerstoffsättigung und Atmung für Jakob, ein Reanimationstraining für uns. Uff.

Endlich zu Hause! Glück und Zuversicht auf der einen, Angst und Unsicherheit auf der anderen Seite. Dazu große Dankbarkeit, denn wir können unseren Sohn aus dem Bettchen heben, mit ihm kuscheln etc. ohne vorher eine Schwester um Erlaubnis bitten zu müssen. Leider schlägt Jakobs Überwachungsmonitor immer wieder aus. An einem Abend passiert das so häufig, dass wir in die Klinik fahren. Ein niedergelassener Kinderarzt übernimmt unwillig die Notfallambulanz und untersucht Jakob, während wir ihm unsere Vorgeschichte erklären. Die ausgewerteten Monitordaten zeigen, dass der Heimmonitor einige Male einen Fehlalarm produziert hat. Unserem Sohn geht es gut, Gott sei Dank.

Anfänglich ist Jakob zu Hause zufrieden, nimmt gut zu und ist relativ ruhig. Das ändert sich nach einer Weile. Er schreit häufig, ist sehr geräuschempfindlich und quittiert Spaziergänge oder den Babymassagekurs mit Gebrüll. Auch das An- und Ausziehen ist ihm unangenehm und es gestaltet sich schwierig, Jakob durch Nähe und Berührungen zu beruhigen. „Massive Regulationsstörungen“ lautet die Aussage unserer Physiotherapeutin. Erst nach vielen Monaten kann Jakob Berührungen zulassen und toleriert osteopathische oder physiotherapeutische Behandlungen. Auch die weiteren Entwicklungsschritte gehen langsam voran. In der Theorie weiß ich, dass wir Geduld haben müssen, in der Praxis sieht es mit der Geduld manchmal anders aus, eben weil ich merke, dass gleichaltrige Kinder Jakob in ihrer Entwicklung voraus sind. Doch jeder kleine Fortschritt macht uns stolz und glücklich und als sich Jakob mit einem Jahr erstmals allein vom Rücken auf den Bauch dreht, sind wir völlig aus dem Häuschen. Doch bei aller Dankbarkeit weiß ich an vielen Tagen einfach nicht weiter. Wenn Jakob schreit, weine ich oft mit, da ich ihn kaum beruhigen kann und mir das selbst ankreide. Unsere Physiotherapeutin ist mir in dieser schweren Zeit eine große Stütze. Sie bleibt stets ruhig und gelassen und überfordert uns nicht. Und auch die halbjährlichen entwicklungsneurologischen Untersuchungen sind eine Erleichterung, denn zum einen entwickelt sich Jakob gut, ohne bleibende Schäden, zum anderen erfahren wir, dass viele Frühgeborene Schwierigkeiten mit Umgebungslärm, Trubel und Reizüberflutung haben. Und dennoch fühle ich mich gerade im ersten halben Jahr häufig um den glücklichen Start in ein gemeinsames Familienleben betrogen. Aber auch ich wachse mit meinen Herausforderungen und als Jakob im Alter von sechs Monaten immer weniger Schreianfälle hat, pendelt sich unser Alltag ganz allmählich ein. Anfänglich habe ich zwar Probleme damit, dass Jakob wenig körperliche Nähe sucht. Aber seit dem zweiten Lebensjahr lässt er immer mehr Nähe zu, kuschelt mit uns und scheint immer mehr anzukommen. Stück für Stück entwickeln wir ein ganz normales Familienleben, das zwar nach wie vor geprägt ist von zusätzlichen Untersuchungen, Besuchen beim Physiotherapeuten oder Logopäden, aber das dennoch seinen gewohnten Gang geht.

Wir schöpfen neuen Mut und neue Kraft und als Jakob knapp vier Jahre alt ist, bekommt er eine kleine Schwester. Die komplikationslose zweite Schwangerschaft, die gute Geburt und das ruhige Wochenbett (soweit man bei zwei Kindern von Ruhe sprechen kann) entschädigen mich für viele Dinge, die ich nach der Geburt von Jakob nicht erleben bzw. genießen konnte. Wir sind sehr dankbar, dass Jakobs Schwester ein gesundes, fröhliches Kind ist. Und wir sind glücklich und stolz, dass sich Jakob zu einem tollen, aktiven Kind entwickelt hat. Nach wie vor ist er in manchen Bereichen einige Entwicklungsschritte hinter gleichaltrigen Kindern zurück. Aber wenn ich mich dabei ertappe, Vergleiche anzustellen oder zu hadern, schiebe ich diese negativen Gedanken, wenn möglich, schnell beiseite. Jakob braucht für einige Dinge eben etwas länger. Und diese Zeit versuchen wir ihm zu geben. Er ist ein gesundes, fröhliches und aufgeschlossenes Kind und wir sind sehr dankbar dafür, dass wir ihn haben und dass sich unser Familienleben nach dem schwierigen Start so beruhigend normal entwickelt hat.